In wohlfeile Worte gepackt, wird in diesem Brief nichts anderes gesagt, als: „Überlasst die Ukraine gefälligst ihrem Schicksal und bringt unser bequemes Leben um Gottes Willen nicht dadurch in Gefahr, dass ihr helft, das freiheitliche Wertesystem zu verteidigen.“ Ich kann nicht glauben, dass ich das hier wirklich lese und noch weniger, dass die Vordenker unseres Landes so etwas geschrieben haben! Die gleichen Menschen, die noch vor gar nicht allzu langer Zeit der von Frau Baerbock proklamierten „werteorientierten“ Außenpolitik zujubelten. Anders aber, als diese Vordenker, die sich offensichtlich sobald es mit dem Einstehen für eben diese Werte ernst wird, eilig unter dem Mäntelchen des Pazifismus verstecken, verfolgt Frau Baerbock dagegen eindrucksvoll und mit bewundernswerter diplomatischer Klarheit (die ich ihr in der Tat gar nicht zugetraut hätte) weiterhin ungebrochen die freiheitlichen Werte! Applaus!
Ja, die Befürchtungen, die der Club der intellektuellen Opportunisten für unsere Sicherheit hat, und die Gefahr, dass sich der Ukrainekonflikt ausweitet, wenn wir mit dem Einstehen für unsere Werte ernst machen, ist natürlich nicht von der Hand zu weisen. Aber es kann ja wohl kaum die Lösung sein, aus Angst vor Repressalien seine eigenen Werte zu verraten.
Mich würde wirklich interessieren, wie die Unterzeichner dieses Briefes damit umgehen würden, wenn sie selbst betroffen wären. Um es auf Sesamstrassen-Niveau herunter zu skalieren: Wie würden beispielsweise Frau Zeh oder Herr Yogeshwar reagieren, wenn ihr Nachbar und dessen Familie bewaffnet in ihr Haus eindringen würde, das gesamte Erdgeschoss in Schutt und Asche legen würde, und sich bereits johlend auf der Treppe in den ersten Stock befindet, um dort die Tochter zu vergewaltigen und den Vandalismus fortzusetzen? Würden sie sich dann, statt die (natürlich bewaffnete) Polizei zu Hilfe zu rufen, lieber mit eben jenem Nachbarn an den Küchentisch setzen, ihm die Einliegerwohnung zur kostenlosen Nutzung überlassen und ihm die Erziehung der Tochter anvertrauen, um eine Gewaltspirale zu verhindern? Ich habe da meine Zweifel.
Dennoch scheint man eine vergleichbare Lösung in Sachen Ukraine jedenfalls zu favorisieren!
Wenn man nicht mehr bereit ist, für seine Werte einzustehen, hat man schlicht keine Werte mehr. Auch nicht, wenn man nicht müde wird, zu wiederholen, dass „moralisch verbindliche Normen universaler Natur“ seien. Es wird dadurch nicht richtiger: Moralische Normen sind gerade nicht universaler Natur, sie existieren nur insoweit, als man sich auf sie verständigt hat, nach ihnen lebt und für sie einsteht. Und ganz offensichtlich erkennt zum Beispiel Herr P. aus Russland die „moralisch verbindlichen Normen universaler Natur“ gerade nicht an, ebenso wenig wie die Kriminellen, die sich wegen Verstoßes gegen solche (sogar in Gesetzen festgeschriebene) Normen in Gewahrsam befinden. In diesen Kreisen existieren diese moralischen Normen gerade nicht. Unabhängig davon, müsste nach der in diesem Brief vertretenen Logik jede Ahndung eines Gewaltverbrechens zu einer „eskalierenden“ Gewaltspirale in der Gesellschaft führen. Tut es aber nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Durch die Verteidigung der Freiheit Aller gegen die – moralische und gesetzliche Regeln missachtende – Gewalt Einzelner wird der Frieden und die Sicherheit der Gesellschaft im Gegenteil bewahrt. Nicht anders ist es, wenn es um das Verhalten ganzer Staaten geht. Die zugegeben unangenehme Wahrheit ist: Wenn man sich der Macht des Gewaltbereiten beugt, wird die Gewalt regieren.
Mein Eindruck ist, dass die geforderte Haltung im Wesentlichen der Angst und nicht der Einsicht und schon gar nicht der Weitsicht geschuldet ist. Angst ist bekanntermaßen ein schlechter Berater und scheint offenbar auch kurzsichtig zu machen. Oder glaubt der Club der Opportunisten ernstlich, dass der Weltfrieden dauerhaft gesichert werden kann, wenn man sich der Gewalt beugt? Der daraus resultierende Lerneffekt ist schlicht: (1) Die Macht des Stärkeren setzt sich durch. (2) Die immer wieder bemühten freiheitlichen Werte einschließlich der Grundsätze des Völkerrechts sind bestenfalls Lippenbekenntnisse. (3) Man kommt mit allem durch, solange man es nur mit ausreichend Gewalt und Skrupellosigkeit angeht.
Ist das wirklich das Signal, das man hier senden möchte? In der Konsequenz wird mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit umgehend die nächste Aggression mit noch größerer Skrupellosigkeit vorbereitet werden. Die in diesem Brief vertretene Haltung mag mit Glück für den Moment zu einer Waffenruhe in der Ukraine führen, zur dauerhaften Sicherung des Weltfriedens ist sie allerdings genauso ungeeignet, wie etwa das 9-Euro-Ticket zur Bekämpfung der Inflation.
Das eigentlich Erschreckende ist allerdings nicht die Kurzsichtigkeit der Erwägungen, es ist vielmehr die Nonchalance, mit der man zu Gunsten der eigenen Sicherheit das Einstehen für die eigenen Werte aufgibt. Es ist exakt die gleiche Haltung, die im letzten Jahrhundert das Erstarken des Nationalsozialismus befördert und die Shoah erst ermöglicht hat. Werte werden nur so lange lautstark und werbewirksam vertreten, als man keine Repressalien befürchten muss! Sehr traurig!
© 2022 Joanna W. Stein