Forderungen einer Unsichtbaren

Ein Morgen im Mai. Ich bin gerade aufgewacht, gehe noch schlaftrunken ins Bad. Mein Blick streift den Spiegel und aus den Augenwinkeln sehe ich mein Spiegelbild. Mein Spiegelbild! Das heißt ich existiere tatsächlich! Zumindest reflektiert der Spiegel meine Existenz. Anders als der gesellschaftliche Diskurs: Egal wohin ich schaue, die Nachrichten – ob im Radio oder im Fernsehen und ganz gleich auf welchem Sender -, die Talkshows, die Zeitungen – gleich welcher politischen Couleur -, die Parteien und ihre Programme – wiederum gleich welcher politischen Couleur – oder die themenbezogenen Einzelbeiträge in den Medien: Ich komme dort nicht vor. Nirgends. Ich bin Unsichtbar!

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Dabei habe ich immer gedacht, ich sei der „Normalbürger“, den sich jeder Staat und jede Gesellschaft aus tiefsten Herzen wünscht: Mutter von zwei Kindern und damit über dem viel beklagten Kinderdurchschnitt von 1,57. Seit über 30 Jahren arbeitete ich, war nie arbeitslos, war lediglich zwischen den Geburten meiner Kinder 18 Monate in Elternzeit, bin dem Staat nie auf der Tasche gelegen, sondern hab‘ statt dessen jedes Jahr Unsummen an Sozialbeiträgen und Steuern bezahlt. Ja, ich verdiene gut. Deshalb gelte ich aus Sicht des Staates offenbar auch mindestens als „besser verdienend“. Allerdings nicht immer. Bei keinem meiner Kinder habe ich auch nur einen Cent Elterngeld bekommen: Bei dem ersten Kind nicht, weil ich damals „zuviel“ verdient hatte. Mein zweites Kind kam sehr schnell danach, allerdings nicht so schnell, als dass sich die Elterngeld-Regularien nicht zwischenzeitlich hätten ändern können, und wiederum bekam ich kein Elterngeld. Diesmal, weil ich zuvor – elternzeitbedingt – gar nichts verdient hatte! Nun ja, ich habe mich nicht beklagt, wir haben ja keine Not gelitten. 

Ich bin verheiratet. Ganz klassisch. Nicht geschieden, nicht alleinerziehend, nicht adipös. Wir sind eine ganz normale Familie. Doppelverdiener. Die Kinder – mittlerweile im Teenageralter – gehen beide auf ein Gymnasium, sind nicht verhaltensauffällig, nehmen keine Drogen und werden voraussichtlich ihr Abitur schaffen. Wir haben nur ein Auto – aus Nachhaltigkeitserwägungen. Wir haben auch ein Haus gebaut – kein großes Haus. 140 m² Wohnfläche: Das ist angenehm für eine Familie mit zwei Kindern und einer Katze, aber sicher keinesfalls luxuriös. Wir machen keine teuren Fernreisen, fliegen weder nach Mauritius noch auf die Seychellen. Teure Hobbys haben wir auch nicht – im Grunde haben wir mangels Zeit gar keine Hobbys.

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Unser Lebensstandard ist sicherlich nicht schlecht, aber er ist auch nicht vom Himmel gefallen, sondern beruht tatsächlich auf harter Arbeit. Wir waren und sind oft am Rande unserer Kräfte. Unsere Berufe haben zwar auf dem Papier eine 40-Stunden-Woche, in der Realität ist es aber eher eine 60-Stunden-Woche. Und damit liegen wir noch gut: Freunde von uns sind Anwälte, ein anderer Freund ist Wirtschaftsprüfer – die haben 70-80 Stunden-Wochen. Vor dem Hintergrund, dass wir uns um die Kinder kümmern wollten und mussten, war eine 60-Stunden-Woche für uns allerdings auch das Maximum des Stemmbaren. Wir haben keine Eltern bzw. Großeltern in der Nähe, die uns hätten helfen können – im Gegenteil haben unsere weit entfernt lebenden Eltern eher noch Hilfe von uns eingefordert. Alles in allem haben wir den Alltag so gerade eben hingekriegt und sind bisher keinem Burn-Out zum Opfer

gefallen. Aber der Preis war hoch: Keine Zeit für uns selbst oder gar für einen Hauch von Selbstverwirklichung, keine Zeit für Hobbys oder intellektuelle Interessen und keine Energie mehr, um einen großen Freundeskreis – oder überhaupt einen Freundeskreis – zu unterhalten oder sich sonst in irgendwelchen sozialen Zirkeln zu engagieren.

Auch wenn wir anscheinend als „reich“ gelten, fühlt es sich keineswegs so an: Am Ende des Monats bleibt kein Cent übrig. Ich muss dazu sagen, dass wir im Süden der Republik leben, schlimmer noch: im Süden von München. Dort ist alles teuer … oder besser: teurer als anderswo in Deutschland. Ich vermute daher, dass, wenn wir beispielsweise in Ostfriesland wohnen würden, wir uns mit unserer Einkommenssituation möglicherweise tatsächlich „reich“ fühlen würden. Allerdings hätten wir dann auch eine andere Einkommenssituation, weil es dort keine Jobs gibt, mit denen man vergleichbar verdienen könnte. Egal: Es geht uns als Familie finanziell und auch sonst ganz gut … wir führen kein schlechtes Leben, aber luxuriös und sorglos ist es ganz sicher nicht.

Wir haben uns nie etwas zu Schulden kommen lassen; keiner von uns ist je straffällig geworden.

Ich lebte also in der Annahme, dass Bürger wie ich dem Staat bzw. der Gesellschaft prinzipiell willkommen wären. Dementsprechend bin ich auch dem Irrglauben aufgesessen, dass der gesellschaftliche Diskurs meine Existenz goutiert; zumindest aber nicht ignoriert. Wie gesagt ein Irrglaube! 

Es werden hitzige Debatten geführt über jede erdenkliche Personengruppe: Senioren und Rentenempfänger (was nicht notwendigerweise dasselbe ist), Alleinerziehende, Menschen mit Migrationshintergrund, Corona-Leugner, Kinder, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle, Transsexuelle, Menschen mit diversem Geschlecht, Mitglieder von Religionsgemeinschaften, Super-Reiche, Hartz IV-Empfänger, Drogenabhängige, Adipöse … diese Liste ließe sich noch fortführen.

Mit unendlich viel Aufwand (zeitlich und finanziell) werden die Bedürfnisse einer jeden Gruppe erforscht, und dann – gerne unter Einbindung ausgesprochen kostspieliger Arbeitskreise – noch mehr Aufwand betrieben, um passgenau auf deren Bedürfnisse zugeschnittene Sonderregelungen, Präventions-, Aufklärungs- oder Unterstützungsprogramme ins Leben zu rufen. Alles mit (meinen) Steuergeldern finanziert. In Talkshows überschlagen sich die Teilnehmer, um mit ihrem Verständnis für die Anliegen dieser Gruppen zu glänzen und sich mit ihren Beiträgen gegenseitig zu überbieten. Vor allem werden dabei die sachlich geprägten Beiträge von den ausschließlich emotionalen Beiträge überboten. Auch in den Zeitungen das gleiche Bild: Im Handelsblatt finden sich zwar mehr Artikel, die sich den Problemen der Super-Reichen widmen, als in der taz. Dafür finden sich in der taz mehr Artikel, die sich um die Sorgen der Hartz-IV-Empfänger drehen. Ein roter Faden zieht sich allerdings durch alles durch: Leute wie ich spielen in keiner einzigen Debatte eine Rolle, in keinem Zeitungsartikel und in keinem Nachrichten-Beitrag. 

Menschen gehen auf die Straße, um für oder gegen die Anliegen solcher Personengruppen zu protestieren, es werden Lichterketten entzündet, Helfer-Gruppen ins Leben gerufen oder Interessengemeinschaften gegründet. Nie geht es dabei um Leute wie mich … und Leute wie ich nehmen an solchen Aktionen auch nicht teil.

Wir haben nämlich gar keine Zeit und auch keine Energie mehr, um uns auf Demonstrationen zu tummeln, an Kundgebungen teilzunehmen, uns im Wald an Bäume anzuketten oder uns des Abends in Talkshows zu echauffieren: Wir arbeiten. Den ganzen Tag. Nach unserem 10-12 stündigen Arbeitstag kümmern wir uns um die Kinder, halten Haus & Hof sauber und instand, kümmern uns zwischendurch noch schnell um unsere alten Eltern, um dann spätestens um 22:00 Uhr erschöpft ins Bett zu fallen.  Da bleibt keine Zeit, sich werbe- und publikumswirksam zu inszenieren oder sich beispielsweise wochenlang auf einem Segelschiff aufzuhalten, um von Skandinavien in die USA zu kommen. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum ich unsichtbar bin.

Nun wäre diese Unsichtbarkeit ja gar nicht zu beanstanden, wenn sie denn konsequent gelebt würde. So ist es aber nicht, denn für das Finanzamt bin ich keineswegs unsichtbar! Das Finanzamt hat mich ganz genau im Blick. Wenn ich meine Steuern auch nur mit einem Tag Verspätung zahle, muss ich 6% Verzugszins entrichten, der auch cent-genau eingetrieben wird. Ist ja auch verständlich: Wie sollte man sonst die besagten Präventions- und Unterstützungsprogramme, oder so sinnvolle Dinge, wie den Neudruck behördlicher Formulare in gendergerechter Sprache, oder auf Arabisch, Somali oder in sonst einer außer europäischen Sprache, oder den Einbau von „Divers-Toiletten“ in öffentlichen Gebäuden finanzieren? Nebenbei bemerkt, würde ich es in Sachen Toiletten für sinnvoller halten, erstmal die (existierenden) Toiletten in Kindertagesstätten und Schulgebäuden instand zu setzen, denn es gibt mit Sicherheit mehr Kinder, die von einer solchen Maßnahme profitieren würden, als es Menschen mit diversem Geschlecht gibt, die von „Divers-Toiletten“ profitieren könnten. 

Damit das hier keinen falschen Zungenschlag bekommt: Ich bin durchaus ein großer Verfechter des Minderheitenschutzes und der Minderheitenrechte! Diese Rechte wurden aber vor dem Hintergrund geschaffen, dass in einer Demokratie die Mehrheit die Maßstäbe setzt. Aktuell setzen aber zunehmend die Minderheiten die Maßstäbe zu lasten der Mehrheit – jedenfalls in Deutschland. Das verkehrt die Idee von Demokratie in ihre Gegenteil.

Ich halte es auch für ausgesprochen gefährlich, dass in unserer Gesellschaft nur noch Konsens erlaubt zu sein scheint und unnachgiebig eingefordert wird. Jede Entscheidung muss auf einem Konsens beruhen. Auch die Gesellschaft darf nicht „gespalten“ sein. Was ist denn das für ein Verständnis von Demokratie? Eine Demokratie, in der es keine gegensätzlichen Meinungen mehr geben darf, ist doch keine Demokratie! Die Begriffe „Konsens“ und „Entscheidung“ schließen sich schon denknotwendig gegenseitig aus: Wenn ohnehin schon Konsens besteht, erübrigt sich eine Entscheidung! Wer unbedingten Konsens fordert, verspielt die Chance, durch Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen zu besseren Erkenntnissen zu kommen. Unbedingter Konsens ist die Urzelle der Intoleranz, die mit den grotesken Auswüchsen der „Cancel-Culture“ schon bösartige Geschwüre und Metastasen gebildet hat.

Vor allem möchte ich als ganz „normales“ Mitglied dieser Gesellschaft nicht unsichtbar zu sein! Ich trage seit Jahrzehnten dazu bei, dass sich diese Gesellschaft überhaupt den Luxus leisten kann, auf alles und jeden Rücksicht zu nehmen und ich erwarte, dass das wahrgenommen wird und auf mich in gleicher Weise Rücksicht genommen wird!

Ich fordere, dass sich die Gesellschaft darauf besinnt, was Demokratie eigentlich heißt und ich möchte, dass Toleranz und Meinungsvielfalt in den gesellschaftlichen Diskurs zurückkehren.

© 2021 Joanna Watson Stein

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