
Vor einiger Zeit besuchte ich einen Freund in einer anderen Stadt, hatte aber leider meine aktuelle Lektüre zu Hause vergessen. Eine Straße weiter gab es glücklicher Weise einen Second-Hand-Buchladen, der trotz Corona-Restriktionen geöffnet hatte und mehrere Kisten mit alten Taschenbüchern vor die Tür gestellt hatte. Da ich die Lektüre Englischer Bücher vorziehe, war die Auswahl entsprechend klein: Es gab die Option, einen schwülstigen Liebesroman à la Angélique zu erwerben oder Blue Nights von Joan Didion. Wenig überraschend entschied ich mich für Blue Nights.
Nun ist Joan Didion ja keine Unbekannte und natürlich war auch mir ihre Biographie in groben Zügen bekannt. Ich hatte mich aber bisher nicht näher für ihre Werke interessiert.
Blue Nights, das so unerwartet auf meiner Lese-Bildfläche erschienen war, änderte das grundlegend!
Nachdem ich das Buch beendet hatte, las ich diverse Rezensionen darüber. Eine meiner Marotten: erst das Buch lesen und dann die Rezensionen – nicht umgekehrt -, damit man bei der Lektüre unvoreingenommener ist. Zu meiner großen Verwunderung kamen sämtliche dieser Rezensionen zu dem Schluss, dass Joan Didion mit Blue Nights im Wesentlichen den tragischen Tod ihrer Tochter und den ihres Ehemanns verarbeitet.
Natürlich spielt der Verlust von Tochter und Ehemann eine große Rolle in Blue Nights. Wie sollte es auch anders sein, bei solch tiefgreifenden Ereignissen? Meinem Verständnis nach allerdings nicht deshalb, weil Joan Didion um deren Verarbeitung ringt, sondern vielmehr deshalb, weil der Tod von Tochter und Ehemann ihr Leben einschneidend veränderte und die Auseinandersetzung mit einer Reihe von Fragen initiierte, die gemeinhin gern aufgeschoben werden: Die Auseinandersetzung mit der EIGENEN Endlichkeit & Vergänglichkeit. Und darum geht es in Blue Nights.
Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit den drei wesentlichen Fragen, die sich einem stellen, wenn das mittlere Lebensalter hinter einem liegt:
- Wie akzeptiert man den Verlust physischer Kraft und wie geht man damit um?
- Wie bewahrt man sich eine positive, nach vorn gerichtete Lebenseinstellung, wenn einem die Grenzen dessen, was im eigenen Leben noch möglich ist, bewusst werden?
- Wie akzeptiert man, dass es im Leben nur um den Vorgang des Lebens selbst geht, dass man das Leben prinzipiell alleine lebt und dass andere Menschen – wie sehr man sie auch liebt oder sie einen zurück lieben – immer nur vorübergehende Weggefährten sein können?
Diese Fragen können von jedem Menschen nur ganz individuell beantwortet werden und auch Blue Nights bleibt die Antwort schuldig. Aber, wie bei vielen Dingen in diesem Leben, ist auch bei der Beantwortung dieser Fragen vor allem der Weg das Ziel.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit stellt Joan Didion immer wieder Rückblenden in ihre Vergangenheit an. Sie stellt ihr Leben als stark segmentiert dar; eine Aneinanderreihung von für sich selbst stehenden Lebensabschnitten mit jeweils ganz eigenen Wertsetzungen und Regeln, die zum Teil nur wenig miteinander zu tun haben. Als jemand, der grundsätzlich in Systemen denkt, sich in ihnen wohl fühlt und dem präzise Ordnung ein Bedürfnis ist, ist mir dies durchaus vertraut und keineswegs unsympathisch. Die eigentlich entscheidende Frage ist allerdings, was genau stellt die Klammer um all diese Lebensabschnitte dar? Abstrakt gesehen, ist es vermutlich die Essenz der eigenen Persönlichkeit, die mit bestimmten Präferenzen bestimmte (Lebens-)Entscheidungen trifft. Was diese Essenz der Persönlichkeit aber konkret ausmacht, ist eine der am schwierigsten zu beantwortenden Fragen. Es bedarf Mut, diese Frage zu stellen. Diesem Mut mangelt es Joan Didion nicht, und so berührt sie in Blue Nights diese Frage immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln, ohne allerdings die Antwort zu berühren. Eine Antwort zu erwarten wäre jedoch auch vermessen, denn wenn man eine so präzise Denkerin wie Joan Didion ist, immer bemüht um einen ganzheitlichen Gegencheck mit Intuition & Emotion, dann ist die Beantwortung dieser Frage eine Lebensaufgabe, die – wenn überhaupt – nur ganz am Ende des Lebens gelingen kann.
Das Buch stellt die Ordnung und die Einordnung offener Lebensfragen in den Vordergrund, nicht ihre Beantwortung. Die Art und Weise, in der Joan Didion dies angeht, ist genauso authentisch wie schonungslos und dennoch sensibel. Es ist erfrischend – und wie ich finde auch beruhigend – wenn jemand den Intellekt hat, die essentiellen Lebensfragen zu stellen und den Mut und die Stärke beweist, nicht die Augen vor den weniger schönen Fakten des Lebens zu verschließen. Joan Didion ist so jemand und ich bin ihr mehr als dankbar, dass sie uns mit Blue Nights daran teilhaben lässt.
Ein lesenswertes Buch!
© 2021 Joanna Watson Stein
Rezension auch auf LovelyBooks.de veröffentlicht:
https://www.lovelybooks.de/autor/Joan-Didion/Blue-Nights-696676024-w/rezension/2981812706/
