Kinder an die Macht: Es ist geschafft!

In den 80ern hatte ein wohlmeinender Musiker diese Option als Lösung aller Weltprobleme in den Raum gestellt. Unter Nutzung einer gewissen künstlerischen Überzeichnung und im Dienste eines provokanten musikalischen Gegenentwurfs, versteht sich. 

Doch das Körnchen Wahrheit wurde offensichtlich zu wörtlich genommen und als ultimatives politisches Konzept verstanden – vor allem von den Kindern in den 80ern. Es setzte sich offensichtlich hartnäckig in den Köpfen eben jener Kinder fest. Und nun haben sie es endlich geschafft: Die Kinder von damals sind jetzt tatsächlich an der Macht! Gratulation! 

Der jahrzehntelange Kampf um die Macht erforderte einiges an Geschick und Durchhaltevermögen und es ist nur Recht und billig, dass diese Anstrengungen irgendwann belohnt werden. Durchhaltevermögen bedurfte es sicher insbesondere im Hinblick auf die Bewahrung der kindlichen Naivität – und das allein ist ja schon eine beachtliche Leistung, denn normalerweise sammelt man mit zunehmendem Alter Erfahrungen an, die diese kindliche Naivität einem gesunden Realismus weichen lassen. Im besten Fall macht die Naivität sogar der Weisheit Platz. So oder so, es bedarf sicherlich einer erheblichen Anstrengung, trotz aller Lebenserfahrung an einer naiven Lebenshaltung festzuhalten. Hut ab! Die Kinder von damals haben es geschafft.

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In den 80ern wurden mit der Rettung des Käfers Karl erste Erfolge errungen, heute werden ganze Bauprojekte von bundesweiter – ja sogar europaweiter – Bedeutung mit Blick auf die Nachfahren von Karl dem Käfer jahrzehntelang lahm gelegt oder sogar gänzlich verhindert.

Diese konsistente Lebenshaltung zeigt sich auch bei den pazifistischen Ansätzen: Gestern noch gegen die Stationierung von Pershing-Abwehrraketen demonstriert, und heute im Lichte einer Neuauflage des kalten Krieges konsequent auf etwaige Waffenlieferungen an osteuropäische Staaten verzichtet. Freilich möchte man dennoch Haltung zeigen und beweisen, dass man die Situation alles andere als auf die leichte Schulter nimmt. Und so stellt man jenen osteuropäischen Staaten in einem Akt von unbürokratischer Solidarität kurzer Hand 5000 Helme zur Unterstützung der Landesverteidigung zur Verfügung. Wer das als lächerlich bezeichnet, hat die tiefere konzeptionelle Komponente übersehen: Es handelt sich hier um Solidarität, so wie sie vor dem Hintergrund der kindlichen Naivität interpretiert wird. Die Kinder sind jetzt – wie in den 80ern eingefordert – endlich an der Macht: Spontan, naiv, wohlmeinend!

Etwa vergleichbar mit der Situation, dass ein 4-jähriger Knirps seinem halbwüchsigen Bruder einen Lolli schenkt, als er ihn von einer Gruppe älterer und deutlich größerer Nachbarjungen brutal zusammengeschlagen, schwer verletzt und kaum noch bei Bewusstsein am Boden liegend findet. Eine rührende Geste! Von ehrlicher, liebevoller Sorge und Solidarität getragen, keine Frage! Aber wird der Lolli den Bruder davor bewahren, an inneren Blutungen zu sterben? Gut gemeint ist eben noch lange nicht gut gemacht.

In den Kreisen der nunmehr an die Macht gekommenen wohlmeinenden Kinder scheint man sich allerdings mit „gut gemeint“ zu begnügen: Man setzt auf Symbolpolitik statt auf Inhalt. Man setzt Zeichen statt sich um die reale Lösung der Probleme zu kümmern. Lichterketten, Gedenkveranstaltungen und Sprachsymbolik haben Hochkonjunktur. Und nun auch die Helmindustrie.

Man hat sich entschieden, alle Energien und Ressourcen auf die äußere Form der Darstellung zu verwenden, statt sich um den realen Nutzen, den materiellen Inhalt und vor allem um die Konsequenzen etwaiger Maßnahmen zu kümmern. Aber Letzteres würde natürlich auch dem kindlich naiven Ansatz widersprechen. Es bräuchte dann nämlich Weitblick statt Spontanität und realistische Einschätzungen – die gegebenenfalls zu unangenehmen Erkenntnissen führen – statt Naivität. Zweifellos ist es zu begrüßen, wenn Entscheidungen von wohlmeinenden Gemütern getroffen werden, ich persönlich würde mich jedoch dennoch deutlich wohler fühlen, wenn sie in erster Linie von fundierten Kenntnissen der jeweils zur Entscheidung stehenden Thematik getragen wären. Aber – wie gesagt – das sieht man bei den Kindern an der Macht eben anders: „form over substance“! Deshalb suchen sie nun auch ihr (und unser aller) Heil in der Bestellung eines Parlamentspoeten. Ein Hoch auf die Lyrik! Und ich bin sicherlich die Letzte, die das nicht ernst meinen würde.

Nun ist das Parlament allerdings die Legislative unseres Staates und nicht das Kammertheater. Das heißt, es werden dort Gesetze beschlossen und keine Komödien aufgeführt. Zumindest sollte es so sein, aber ich gebe zu, die Grenzen sind fließend. Welches Signal sendet also die Bestellung eines Parlamentspoeten? Auf jeden Fall ein antizyklisches Signal! Den Kindern an der Macht scheint es gelungen zu sein, sich neben ihrer kindlichen Naivität auch ihren kindlichen Trotz bewahrt zu haben. Während weltweit eine klare Tendenz bei der Gesetzgebung zu einem „substance over form“-Ansatz geht, scheinen die Kinder an der Macht trotzig in die entgegengesetzte Richtung schreiten zu wollen und mit Hilfe des Parlamentspoeten die Gesetze künftig „form over substance“-mäßig, lyrisch ansprechend gestalten zu wollen. Der deutsche Sonderweg eben. Wie immer. Aber vielleicht wurde dieser Ansatz ja auch zuvor – von der Öffentlichkeit unbemerkt – mit den Europäischen Partnern abgestimmt? Wer weiß!

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Ja, auch ich habe damals voller Überzeugung gegen die Stationierung der Pershings demonstriert und stehe weiterhin dem Lager der Pazifisten nahe. Und auch Karl der Käfer hat mir damals mehr als einmal die Tränen in die Augen getrieben. Allerdings ist es mir nicht gelungen, über die Jahre meine kindliche Naivität zu bewahren, vielleicht schon eher den Trotz. Dafür habe ich aber gelernt, den meisten Situationen auch etwas Positives abzugewinnen. Und so freue ich mich schon auf die kalten, stürmischen Winterabende, an denen ich mich in mein wohlig warmes, durch eine Wärmepumpe beheiztes Arbeitszimmer zurückziehen werde und in der Gesetzeslyrik der Kinder an der Macht schmökern kann. Den Wermutstropfen, dass die Wärmepumpe zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich mit dem zugekauftem Strom aus den französischen Atomkraftwerken betrieben werden wird, werde ich notfalls mit einem Glas Rotwein betäuben.

© 2022 Joanna Watson Stein

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